Phasenraum und Phasenbahn

Wir haben hier den Zustand eines mechanisches System mit einem Freiheitsgrad (s) durch einen Punkt P(s(t)|v(t)) in der s-v-Ebene charakterisiert. Die Angabe eines solchen Zustands bestimmt aber nicht nur den Zustand selber, sondern über die dynamischen Gleichungen auch sein weiteres (und auch bisheriges) zeitliches Verhalten. Die Menge aller Punkte P(s(t)|v(t)) bezeichnet man als Phasenraum und die Linie, die P auf Grund bestimmter Anfangswerte durchläuft, als Phasenbahn. Der Wert dieser Begriffsbildung liegt u.a. darin, dass die Phasenbahn das u.U. komplexe Verhalten eines physikalischen Systems geometrisch anschaulich macht. 

Das soll im folgenden Beispiel gezeigt werden. Außerdem werden wir die vorgestellte Methode hierbei zum ersten Mals dazu benutzen,  ein neues Ergebnis herzuleiten. 

Der harmonische Oszillator

Eine rücktreibende Kraft proportional zur Auslenkung führt bekanntlich auf die DGL des harmonischen Oszillators. 
Wie auch in den vorhergegangenen Beispielen lässt sich das Verfahren gut mit Übungsblättern und parallel dazu mit Folien in einem Kurs erarbeiten. Nach Aufstellung des DGL-Systems 

D s / D t = v, 
D v / D t = - w02 s = - D/m s . 

wird nunmehr das Pfeilsystem Schritt für Schritt konstruiert. 
 

Die dynamischen Gleichungen besagen, dass D s ~ v (horizontale Pfeile) und D v ~ - s ist (vertikale Pfeile). Da weder Ds von s noch Dv von v abhängt, sind die s-Komponenten auf horizontalen Linien und die v-Komponenten auf vertikalen Linien konstant. Man erhält daher das folgende Bild: 

 

Vervollständigt man das Pfeilsystem und konstruiert man die resultierenden Pfeile (Vektorsummen der Komponenten), dann wird die Struktur des Vektorfeldes klar: 


 

Die dynamischen Pfeile stehen überall senkrecht auf dem Radius, sie bilden also ein Wirbelfeld. Startet man die Bewegung mit einer beliebigen Anfangsbedingung, also an einer beliebigen Stelle der s-v-Ebene, so beschreibt das System eine geschlossene Bahn. Wählt man die Einheiten des s-v-Systems so, dass die Scheitelwerte f42.bmp (586 Byte)und f43.bmp (586 Byte) gleich groß sind, dann ist die Bahn ein Kreis. Streng genommen trägt man also nicht s und v auf, sondern s/f42.bmp (586 Byte) und v/f43.bmp (586 Byte) und die Phasenbahnen sind Einheitskreise. Da die Pfeile bei gleichem Radius auch gleich lang sind, ist die Bahngeschwindigkeit auf den Phasenbahnen konstant, die Phasenpunkte machen also eine gleichförmige Kreisbewegung mit der Winkelgeschwindigkeit w . Daraus ergeben sich sofort die s(t) und v(t) -Funktionen: 

f44.bmp (12214 Byte)
Betrachtet man die dynamischen Vektorpfeile, dann sieht man, dass sie nach außen proportional zum Radius länger werden. Da der Umfang der Phasenbahnen ebenfalls proportional zum Radius wächst, ist die Umlaufzeit für alle Phasenbahnen gleich groß. Die Frequenz des harmonischen Oszillators ist also unabhängig von der Amplitude. 
 

Der Wert der Winkelgeschwindigkeit w ergibt sich aus folgender Überlegung: Betrachtet man die Bewegung des Phasenpunktes bei s=0 und v=f43.bmp (586 Byte), dann hat sein Geschwindigkeitspfeil dort wegen der oben beschriebenen Normierung die Länge Ds/f42.bmp (586 Byte) . Die Winkelgeschwindigkeit des Phasenpunktes ist also 

w = Df/Dt = Ds/(1 f42.bmp (586 Byte)Dt) = f43.bmp (586 Byte)Dt/(f42.bmp (586 Byte)Dt)=f43.bmp (586 Byte)/f42.bmp (586 Byte)

An der Stelle v=0 und s = f42.bmp (586 Byte) ergibt sich andererseits für dieselbe Winkelgeschwindigkeit
w = - Dv /(1 f43.bmp (586 Byte)Dt) =  w02f42.bmp (586 Byte) Dt/(f43.bmp (586 Byte)Dt) = w02f42.bmp (586 Byte)/f43.bmp (586 Byte)=w02 / w. Bei der Umwandlung wurde die dynamische Gleichung benutzt. Also folgt w = w0.

Man sollte anmerken, dass diese wichtigen Ergebnisse über den harmonischen Oszillator ganz ohne Analysis gewonnen wurden. Insbesondere wurden dabei weder Kenntnisse über die Ableitungen der trigonometrischen Funktionen noch die Kettenregel benötigt. 
 
 

Die gedämpfte Schwingung 

Beim gedämpften Oszillator tritt eine zusätzliche rücktreibende Kraft proportional zur Geschwindigkeit hinzu: 

Ds / Dt = v, 
Dv / Dt = - w02s - l v. 

Dadurch bekommen alle dynamischen Pfeile eine zusätzliche Komponente in Richtung auf die s-Achse: 

 

Das Vektorfeld ist ein nach innen gerichteter "Strudel". Alle Phasenbahnen werden daher nach innen gezogen. Es entstehen Spiralen, die schließlich, unabhängig vom Startpunkt, alle im Ursprung enden. Im folgenden Plot wurden die Phasenpunkte in gleichen zeitlichen Abständen gezeichnet. 

 
 

Die Dimension des Phasenraums 

Um den Zustand eines Systems (und sein weiteres zeitliches Verhalten) vollständig zu beschreiben, benötigten wir beim "Bonbonproblem" nur eine einzige Angabe, nämlich die Masse. Sein Phasenraum ist also eindimensional: 

Beim "Tassenproblem" und beim den bisher behandelten einfachen mechanischen Systemen sind es zwei Angaben (Temperatur und Zeit bzw. Ort und Geschwindigkeit). Der zugehörige Phasenraum ist also zweidimensional:

Der Grund dafür ist folgender: Die DGL des "Tassenproblems" ist 1.Ordnung aber zeitabhängig während die DGL der betrachteten mechanischen Problemen selbst schon von 2.Ordnung ist. In beiden Fällen lässt sich die Dynamik anschaulich durch ein System von Wegweisern in der Ebene darstellen und die DGL in der vorgeführten Art grafisch lösen. 
Die Phasenbahnen zeigen auch das Langzeitverhalten eines Systems. Während nicht-periodische Systeme offene Bahnen beschreiben, sind periodische Systeme durch eine geschlossene Phasenbahn charakterisiert. Manche Bahnen nähern sich im Laufe der Zeit asymptotisch einer Kurve oder einem Punkt an ("Attraktor") oder sie verharren schon von Beginn an auf derselben Bahn. 

Inhalt

Differentialgleichungen 2. Ordnung 

Chaotische Systeme